Die wahre Bedeutung der Sinne für ein erfülltes Leben

Sinne sind die Werkzeuge, deinen Körper und die Welt so wahrzunehmen, wie sie sind. Dazu gehören Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Gleichgewicht, Proprio- und Interozeption. Könnte es einen Zusammenhang zwischen Sinneswahrnehmung und Gefühl von Sinnlosigkeit oder Sinnerfüllung geben?

In diesem Artikel gebe ich dir meine Erfahrung über die wahre Bedeutung der Sinne und warum es ein fundamentales Problem ist, wenn unsere Sinne verkümmern. Wir sprechen über die Mechanik der menschlichen Erfahrung, aber die Essenz ist ganz einfach: Schule deine Sinne und lerne, deiner Sinnlichkeit zu vertrauen.

Input, Verarbeitung und Output

Um die Bedeutung der Sinne zu verstehen, schauen wir uns kurz ein einfaches Modell der Sensorik, des Gehirns und der Motorik an. Dieses Modell ist eine Grundlage, die ich in meinen Onlinekursen und Workshops zu Bewegung benutze. Das Gehirn ist die Verarbeitungszentrale: Es bekommt Informationen von den Sinnesorganen. Diese werden verarbeitet, schnell mit Erfahrungen und Erwartungen gemixt und es entsteht Handeln und Denken. Dass habe ich mit „Motorik“ bezeichnet. Mit Motorik meine ich jede Reaktion, jede Bewegung, aber auch jedes Denken oder Sprechen. Handeln ist eine Form der Bewegung oder ggf. das Verhindern einer Bewegung.

Fundamental zu verstehen ist, dass Gedanken ebenfalls ein Output des Gehirns sind und keine primäre Erfahrung im Sinne der Sinne. Denken ist, wie Handeln, ein Resultat von Verarbeitungsprozessen. Allerdings kann es auch eine Feedbackschleife geben, wenn Gedanken neue Gedanken stimulieren. Das hatte ich bereits kur in einem Nebensatz erwähnt: Das Gehirn verarbeitet Sinne eventuell mit Erfahrungen und Erwartungen.

Fakt (Sinneswahrnehmungen) und Fiktion (Gedanken)

Die Qualität der Reaktion, hier Handeln und Denken, wird zu einem großen Teil von der Qualität des Inputs, also den Sinneswahrnehmungen, beeinflusst. Die Sinneswahrnehmungen sind Fakten, eine reale Wahrnehmung über den Körper. Gedanken sind sekundäre Interpretationen und Ideen, welche per Definition Fiktion sind. Das bedeutet nicht, dass Fiktion falsch ist, aber es ist keine primäre Realität. Ein Schlüssel zum Erkennen der Realität ist also, die Interpretation und Reaktion auf die Wahrnehmung von der Wahrnehmung zu unterscheiden. Ich benutze hier Ideen, Konzepte und Interpretation als austauschbar. Ideen, Konzepte und Interpretation sind primäre Erfahrungen im individuellen Kontext.

Gute Entscheidungen, respektive Handeln und Denken, sind abhängig von der Fähigkeit der Wahrnehmung der Realität über die Sinne. Wenn wir fühlen, sehen, hören, schmecken und unseren Körper im Raum wahrnehmen können, dann bekommt unser Gehirn eine Vielzahl von Informationen, auf Basis deren es „gute“ Entscheidungen treffen kann, die im Einklang mit unserem Körper stehen, weil die Entscheidungsbasis unser Körper ist. Die Sinneswahrnehmungen er-füllen uns im wahrsten Sinne des Wortes.

Flow und Präsenz

Diese Wahrnehmung kennen wir in Momenten, in denen wir wirklich präsent sind. Bei einer Mahlzeit, beim Spazieren oder Rennen in der Natur, beim Training oder wo auch immer wir im Moment sind. Die reichen Sinneserfahrungen liefern uns so viele Informationen über den Moment, dass kein Denken mehr nötig ist. Im Moment stellt sich die große Frage nach dem Sinn nichtmehr und auch retrospektiv wird der Moment als sinnvoll beschrieben. In meiner Erfahrung beschreibt mein analytischer Verstand die Erfahrung im Nachhinein oftmals als sinnlos, obwohl der Körper die Situation als sinnvoll empfunden hat. Unser Verstand ist meist sehr geschult darin, fiktive Geschichten über die Realität zu konstruieren.

Es gibt verschiedene Sphären von „Sinn“ im Leben, aber in einer Essenz liefern diese Erfahrungen dir die einfache Erkenntnis, dass wirkliches präsent-sein an sich ein Sinn im Leben ist.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich die enorme Bedeutung der sensorischen Integration für…alles. Wir sollten alle unsere Sinne erhalten oder trainieren, um besser zu denken und zu handeln.

Ich glaube, dass eine mangelnde sensorische Integration, also das sensorische Verhungern, in einer Überaktivität des Denkens resultiert. Wenn wir nicht über unsere Sensorik die Realität erfahren, versucht unser Verstand die Realität zu (re-)konstruieren. Da der Verstand aber definitionsgemäß Fiktion ist, weil er Ideen und Konzepte konstruiert, verwechseln wir die Realität mit dieser Fiktion. Wenn wir dann nach dieser Fiktion handeln und weiterdenken, ignorieren wir die wahren Bedürfnisse unseres Selbst. Der Körper sendet uns zwar Signale in Form von Schmerzen (physisch, mental und emotional), aber wir neigen dazu, diese entweder zu ignorieren oder mit den Fiktionen des Verstandes zu interpretieren.

Die mangelnde sensorische Integration – oder auf Deutsch: zu wenig sinnlich wahrnehmen – könnte auch zum Gefühl der Sinnlosigkeit beitragen. Der Teufelskreis ist natürlich, dass wir uns mit dem Denken auf die Sinnsuche begeben, wobei das Denken in erster Linie zu Sinnlosigkeit beigetragen hat. Ich glaube, wir können Sinn nicht erdenken, sondern nur erfahren. Die Aufgabe des Denkens ist es, die Erfahrung zu beschreiben und zu kommunizieren und Impulse zur Wahrnehmung zu geben. Die Beschreibung von Sinn ist eine Konstruktion nach der Erfahrung.

Das hier Geschriebene erscheint vielleicht schwer zu greifen. Ein logisches Problem könnte entstehen, wenn du versuchst, meine Gedanken zu verstehen. Denn ultimativ schreibe ich davon, dass du die Realität nur erfahren, statt verstehen kannst. Ich gebe dir hier den gedanklichen Impuls, genau das zu tun: Aktiviere deine Sinne.

Sinne aktivieren

Schlagen wir wieder die praktische Brücke. Wenn du viele Stunden am Tag am Computer verbringst, dann kreierst du beispielsweise folgende Dysbalancen:

  • Deine Augen sind konstant im selben Abstand und Winkel auf einen Bildschirm gerichtet, sodass dein „Sehen“ nur sehr monoton stimuliert wird.
  • Dein Körper wird kaum bewegt, sodass dein Gleichgewichtssinn nicht gefördert wird. Außerdem verarmen die Signale von deinen Gelenks-, Muskel-, Haut- und Faszien-Rezeptoren. Diese geben dir die Wahrnehmungen, wo dein Körper im Raum und im Verhältnis zu sich selbst ist.
  • Geräusche kommen vermutlich nicht aus allen Richtungen, sondern vielleicht nur aus Kopfhörer oder direkt aus dem Computer.
  • Du bist für lange Zeit in einer virtuellen Aufgabe im Denken, sodass eigene Gefühle und Emotionen weniger wahrgenommen werden.

 

Vielleicht hast du schonmal gemerkt, dass du nach so einem Tag ständig irgendwo anstößt, hängen bleibst, dich tapsig bewegst oder garnichtmehr weißt „wo du bist“ und „wie es dir geht“. Eine Gefahr besteht darin, den Informationsmangel rein über Gedanken, also „externe“ Informationen, beheben zu wollen. Dann machst du dich davon abhängig, dass Geräte oder Experten dir erklären, wie es dir geht und was zu tun und denken ist. Geräte und Experten präsentieren dir primär Ideen und Konzepte, die du keinesfalls mit Fakt verwechseln darfst. Konzepte sind für dich hilfreich, wenn du sie als Impuls zum Experiment begreifst. Du kannst deine Wahrnehmung anhand der Ideen ausrichten und dann mit deiner Erfahrung entscheiden, was für dich wahr ist. Das ist die natürliche und logische Mechanik deiner Erfahrung, die wir in unserer verstandsgeprägten Welt vergessen haben. Wie ich immer wieder betone: Du bist der Experte für deinen Körper. Der Job anderer Experten ist es, dich zu neuen Experimenten einzuladen und nicht die Wahrheit zu präsentieren.

Ganz konkret empfehle ich dir eine tägliche, „sinnliche“ Praxis. Dabei solltest du vor allem auf die Sinne den Fokus setzen, die du in deinem Lebensstil vernachlässigst.

Sinnliche Praxis

Ich benutze dafür eine 10- bis 15-minütige Bewegungsroutine als Anker. Wenn ich den ganzen Tag unterwegs in der Natur bin, brauche ich übrigens keine Routine. Verbringe ich viel Zeit mit monotoner Arbeit, dann nehme ich mir mehr Zeit. Außerdem baue ich zwischendurch immer wieder sensorische Pause ein. In meinen Bewegungsroutinen starte ich immer mit der achtsamen Wahrnehmung des Körpers. Dabei nehme ich auch meine Gedanken wahr und rieche und höre kurz bewusst. Ich stelle mir auch manchmal einen Timer, der jede Minute piept. Jede Minute isolierte ich einen anderen Sinneskanal: Hören, Sehen, Schmecken, Riechen und das Fühlen verschiedener Körperareale. Oftmal scanne ich auch meine inneren Organe. Anschließend atme ich und aktiviere dann das visuelle System, sowie das Gleichgewichtssystem über Kopfbewegungen. Den Verlauf meiner Bewegungsroutine orientiere ich an unserer neuromotorischen Entwicklung, da dieses Trainingsprogramm natürlicherweise zum Ziel hat, alle Sinne zu integrieren und unsere natürliche Bewegungskompetenz zu entwickeln. Am Ende meiner Routine fühle ich mich „mehr bei mir“, „zentriert“ und „verankert“.

Sinnliche Ekstase

Generell sind alle starken, idealerweise natürlichen, Reize wunderbare Sinnesaktivierungen. Eisbaden, Sauna, intensives Training, Sex oder Lachen aktivieren verschiedene Sinne auf intensive Art und Weise. Ich glaube, dass das ein Grund ist, warum wir so viele „Aha“-Erlebnisse nach diesen „Extremen“ haben. Wichtig dabei ist, dass du wahrnehmend bleibst und dich nicht von deinen Sinnen abspaltest. Es ist sehr wohl möglich, beim Eisbaden oder Krafttraining zu dissoziieren und mental abzulenken, sodass du eventuell deinen Sinnen sogar schadest, statt sie zu nähren. Mehr dazu erfährst du in meinem Podcast mit der Trauma-Therapeutin Verena König: #36 Wie du Traumata und Stress kreativ transformierst mit Verena König

Ich bin übrigens regelrecht süchtig nach all diesen sinnlichen Erfahrungen, da ich meine wertvollsten Einsichten, größte Klarheit und besten Entscheidungen immer währenddessen oder danach erlange.

Diese Erfahrungen könnten wir als übersinnlich empfinden, da sie sich der Alltagserfahrung entziehen. Obwohl diese Erfahrungen eigentlich nicht übersinnlich, sondern definitionsgemäß sinnlich sind.

Stell dir vor: Könnte es sein, dass wir unser Leben untersinnlich leben und das als normal empfinden, aber es eigentlich nicht natürlich ist? Könnte es sein, dass wir nach einem Saunabesuch mit anschließendem Eisbad, der Nutzung von Psychadelics, tantrischem Sex oder längerem Fasten mit Breathwork wieder in unsere natürliche Sinnlichkeit zurückkehren? Dass das Übersinnliche eigentlich die natürliche Sinnlichkeit ist? Ich habe für mich herausgefunden, dass das wahr ist. Ich weiß, dass ich eine große Zeit des Tages im erdachten (Alp-)Traum lebe, von dem ich Schritt für Schritt erwache. Natürlich musst du das für dich selbst rausfinden.

Ist Sinnlichkeit schmutzig?

Für viele Menschen ist es eine Konditionierung, dass sinnliche Erfahrungen „schlecht“, „falsch“ oder „hedonistischer Narzissmus“ sind. Ich möchte jetzt hier nicht auf Religionsgeschichte eingehen, aber ein Gedanke dazu ist, dass Menschen sinnliche Ekstase schon immer als Weg zu ihrem höchsten Selbst genutzt haben. Wenn Menschen aber ihre eigene Göttlichkeit (bitte ersetze dieses Wort mit etwas, was mit dir resoniert) erkannt hatten, wurde eine religiöse Institution als Machtinstrument überflüssig. Und so nahmen die Dinge ihren Lauf. Taubheit wurde großartig und Sinnlichkeit schmutzig. Natürlich sollte die sinnliche Hingabe im Einklang mit unserem Umfeld und unserer Umwelt stehen. Aber ich glaube, dass wahre Sinnlichkeit im Einklang mit unserem Selbst, den Mitmenschen und der Natur steht und nicht zerstört. Fahle Sinnlichkeit, die dem Egoverstand dient, kann dagegen zerstörerisch wirken.

Take Away

Aktiviere täglich deine Sinne und halte sie aktiv. Deine natürliche Intelligenz hängt davon ab. Das gilt vor allem vor wichtigen Entscheidungen und in Beziehungen. Übrigens ist dein gesamtes Leben eine Reihe von Entscheidungen und du stehst mit allem immer in Beziehung. Starte mit einer kurzen und täglichen Praxis des Trainings deiner natürlichen Intelligenz und kultiviere diese Qualität Schritt für Schritt in allen Aktivitäten.

Share:

Facebook
Twitter
LinkedIn

Related Posts

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *